Der Überläufer. Roman by Siegfried Lenz

Der Überläufer. Roman by Siegfried Lenz

Autor:Siegfried Lenz [Lenz, Siegfried]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783455814026
Herausgeber: Hoffmann und Campe
veröffentlicht: 2016-02-26T16:00:00+00:00


9.

Kapitel

Proska tat, was ihm der Zivilist befohlen hatte: Er ging vor ihm her, machte keinen Versuch sich umzudrehen und befolgte jedes Kommando gelassen und gleichmütig. Wenn der Zivilist kommandierte: nach rechts, dann bog er nach rechts, ohne Hintergedanken, ohne solch eine Gelegenheit auf eine Fluchtmöglichkeit hin zu prüfen. Er kannte zwar eine Anzahl Kniffe, mit denen er seinen Bewacher, einen mürrischen, schlaksigen Burschen, hätte hereinlegen können, aber andererseits wußte er, daß so etwas keinen Sinn hatte.

Sie bewegten sich lautlos auf dem weichen Boden. Der Zivilist schien Proska in den Fluß treiben zu wollen, denn er dirigierte ihn genau in die Richtung, aus der ein reiner, erfrischender Geruch, der Geruch des Flusses, zu ihnen drang. Der Schlaksige stank nach Fusel. Sein linkes Auge war blind, er brauchte es beim Zielen nicht mehr zu schließen. Die Maschinenpistole scheuerte sich an seiner Joppe.

Vor dem Fluß blieb Proska stehen und blickte ins Wasser. Und im Wasser entdeckte er sein Gesicht und den Himmel. Da tauchte über seiner Schulter der Kopf des Partisanen auf, der lauernd sein Spiegelbild betrachtete.

»Du«, sagte er.

Proska wandte den Kopf zur Seite.

»Was ist?« fragte Proska.

»Weiter, immer am Fluß entlang.«

»Was willst du mit mir machen?«

Der Schlaksige grinste und schwieg. Er umkreiste Proska wie ein Schäferhund die Herde und ließ ihn nicht aus dem noch gesunden Auge.

»Ich habe Durst«, sagte der Assistent.

Der Partisan zeigte auf den Fluß.

»Da«, sagte er, »trink, Wasser, viel Wasser.«

Proska legte sich hin, stützte den Oberkörper auf und trank. Seine Arme zitterten dabei, er schloß die Augen, atmete zwischen den kühlen Zügen heftig ein und aus. Das Wasser war nahezu geschmacklos.

Plötzlich fühlte er einen Stiefel im Nacken, und dieser Stiefel drückte ihn herab. Er ließ sich zur Seite fallen, eine Schulter wurde naß. Über ihm stand der Zivilist und winkte ihm, sich zu erheben.

»Du! Genug getrunken. Weiter.«

Als Proska sich erhob, ging der Partisan unwillkürlich einige Schritte zurück. Er tat das ganz instinktiv, damit er sofort den Abstand bekäme, der ihm Übersicht und Zeit für den Fall gewährte, da er handeln müßte. Im Mischwäldchen fielen Schüsse. Die kleinen, rasch aufeinanderfolgenden Explosionen trommelten den Sumpf endgültig wach. Erschreckte Vögel stoben aus ihren Verstecken. Sie sprühten aus den Baumwipfeln wie schwarze Funken. Der Fluß war grün und still. Er schlug nicht an seine Ufer.

»Weiter«, sagte der Schlaksige, obwohl Proska gar nicht stehengeblieben war. Er hatte das vorbeugend gesagt, und Proska lief vor ihm her, lief mit schwerem Kopf, die Hände auf dem Rücken, den Körper leicht nach vorn gebeugt. In der Ferne tauchte die Eisenbahnbrücke auf. Die Verstrebungen der Stützbogen glänzten matt. Sie gingen zur Brücke. Sie erklommen den Bahndamm, und einige Schottersteine verlagerten sich und knarrten unter ihren Schritten. Ein Signal, ein Galgen der Sicherheit, stand auf freie Fahrt. Züge wurden nicht erwartet.

»Weiter«, befahl der Bewacher, als Proska seine Schritte verlangsamte. Er war hungrig. Wenn er jetzt geraucht hätte, wäre ihm schwindlig geworden. Ihm würde auch schwindlig werden, ohne daß er rauchte. Aber es war noch nicht so weit. Vorläufig spürte er nur eine leichte Schwäche in den Knien. Proska fragte nicht danach, ob der Zivilist an diesem Tag etwas gegessen hatte, das war für ihn selbstverständlich.



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